Chaos
'Der Flügelschlag des brasilianischen Schmetterlings, der in Asien einen Taifun auslöst'. Treffend beschreibt die bekannte Metapher der modernen Chaosforschung unsere Vorstellung von Terroir. Je mehr wir über Wein wissen, desto mehr erleben wir ihn als ein hochkomplexes Gebilde mit einer Eigendynamik, die uns unbegreiflich bleibt. Und gerade deshalb so faszinierend. Irgendwo zwischen Struktur und Chaos, zwischen Kontrolle und Laissez-faire. Nicht die ordentlich hingelegten Sandkörner, nicht die achtlose Schaufel Sand, was fasziniert, ist die Anmut der sich steig verändernden Sanddüne. Die Chaosforschung postuliert die »Schönheit der Grenzen«.
Im Weinberg
Tatsächlich liegen die traditionellen Weinbauregionen in Übergangszonen. Im Bordeaux begegnet die südliche Hitze der atlantischen Kühle, fetter Ton trifft auf kargem Kies. Die großen Burgunder wachsen zwischen mediterranem und kontinentalem Klima, zwischen Fluss und Berg, Schwemmland und Kalkfelsen. Und an der Klimagrenze des kühlen Nordens reifen an den steilen Hängen der Flusstäler, zwischen Wasser und kargem Felsen die eleganten und verspielten Weine der Mosel.
Im Keller
Auch die Vinifikation vollzieht sich im Grenzbereich: Beim Spagat zwischen Handeln und Geschehen lassen, Logik und Intuition, Angst und Vertrauen in die Eigendynamik natürlicher Reifeprozesse. Terroir-Vinifikation meint nicht die 'Konstruktion einer Skulptur', sondern, wie Michelangelo es so treffend formulierte, das 'Abschlagen der Schale, um den Kern freizulegen'.
»Leider werden wir meistens umgebracht. Aber wenn das nicht der Fall ist, dann geschieht etwas sehr Wunderbares«, sagt der alte Drache im Kinderbuch »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer«.
Am Gaumen
Und letztlich ist auch der Genuss eine Erfahrung, die uns neue Grenzen aufzeigt. Terroirweine erlauben uns, bekannte Normen zu überwinden und Dinge zu schmecken, die der ordentlichen Welt verschlossen sind. Sie faszinieren, weil sie nicht eindeutig, sondern geheimnisvoll sind, sie immer auch verunsichern. Ist es der Boden, der Jahrgangscharakter oder die typische Handschrift des Winzers? Und was ist das, was man da sonst noch schmeckt? Der Weinberg oder meine sich selbst erfüllende Prophezeiung? Was mache ich mit dem Wein? Was macht der Wein mit mir…
Der Genuss eines komplexen Weins ist ein Balanceakt an den Grenzen unserer Wahrnehmung, ist ein faszinierendes Erlebnis zwischen der Wachheit und dem Rausch, ist eine Reise in die spannende Welt zwischen Ordnung und Chaos.
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