Regression-Emanzipation-Partizipation

Regression - Emanzipation - Partizipation

Artikel Journal Culinaire, 2014

»Es gibt einen geerbten und einen gelernten Geschmack«, erklärt der kalifornische Kultwinzer Randall Graham. »Der globale Erfolg der Weine aus der Neuen Welt liegt an einer Vinifikation, die ganz auf den geerbten Geschmack abzielt.«


Klar – schon als Jäger und Sammler kannten wir den Unterschied zwischen reifen und unreifen Früchten. Instinktiv und ernährungsphysiologisch völlig richtig wird die süße Frucht als reif und gut assoziiert. Wer mag schon sauer oder bitter? Kinder nicht. Und Erwachsene? Mit dem Verlassen der infantilen Welt von süßer Milch, Breien und Früchten lernen wir, mit differenzierten Aromen umzugehen und entwickeln »Geschmack«. Dabei ist es gar nicht notwendig, den Schnuller der Babys, wie in Winzerfamilien üblich, ab und zu in Wein zu tauchen. Hunger, Neugierde und Entdeckerlust verleiten dazu, nach neuen Nahrungsmitteln zu suchen und die Vielfalt schätzen zu lernen. Dieser Prozess findet in allen Kulturen statt und mündet bei unterschiedlichem Klima und Ressourcen nicht nur in einer weltweit unglaublichen kulinarischen Vielfalt, sondern auch in einem kulturellen Setting: Eß- und Trinkgewohnheiten sind für viele Identitätsbildend. Beim Wein zusätzlich mit einer ganz besonderen Dimension. Kein Getränk ist anthropogenetisch so sehr mit der Bewusstseinsentwicklung verknüpft. Überall finden wir Übereinstimmungen zwischen den Bezeichnungen für geistige Getränke und dem menschlichen Geist, für Spirituose und Spiritus. Selbst im Chinesischen und Japanischen beschreibt das erste Piktogramm des Zeichens für »geistige Getränke« die alkoholische Gärung und ein zweites den menschlichen Geist resp. Seele. Weltweit ist der Wein Symbol für typisch »menschliche« Eigenschaften. Für Zivilisation, Kommunikation, Kunst und Entdeckerlust. Während Milch, Wasser und Brot Archetypen der Naturverbundenheit darstellen, ist Wein der Geist, die Emanzipation. Und doch kann der mit Wein angefeuerte geistige Höhenflug sehr irdisch und profan enden. Beim »Zuviel des Guten« zeigt Wein seine dunkle Seite – mit allen Übergangsformen bis zum kompletten Ich-Verlust. Wie gut, dass er uns auch diese Tür öffnet. Das viele Elend überall, die individuellen Probleme … Wer kann »Welt« schon permanent mit vollem Bewusstsein aushalten? Extreme Polarität in einem Produkt. Kein Wunder, dass Wein von Anbeginn an eine essentielle Rolle spielt, wenn es mythologisch um Sterben und Wiedergeburt geht. Was im christlichen Abendmahl recht distanziert in Szene gesetzt ist, wurde in den Dionysien in archaischer Betroffenheit ausgelebt. Der Kampf zwischen Tag und Nacht, zwischen Bewusstheit und Regression. Anders als in den alten Kulturen steht heute allerdings die Frage »wer gewinnt?« nicht mehr so sehr im Fokus. In unserer allgemeinen Selbstwahrnehmung halten wir uns für ziemlich vernunftbegabte und selbstbestimmte Wesen. Obwohl … 


Vom historischen Optimismus der Wirtschaftswunderjahre ist in Mitteleuropa nicht viel übrig geblieben. Nach einer Reihe von Krisen steht der Bankrott des Sozialismus symbolisch für den Übergang in eine Zeit allgemeiner Verunsicherung und eine durch soziale Konflikte und Ökokatastrophen geprägte depressive Grundstimmung. »Der Einsatz fruchtiger Noten hat in den letzten Jahren einen rasanten Aufschwung genommen. In den 1990er-Jahren hat sich infolge politischer und wirtschaftlicher Veränderungen die soziale Stimmung verschlechtert. Die Menschen erleben eine dauerhafte und eigentümliche Spannung zwischen dem Wollen nach Leistung und Ärmelhochkrempeln einerseits und der Suche nach Sicherheit und Vertrautem andererseits. Diese psychologisch wechselhafte Stimmungslage benötigt auf keinen Fall Düfte, die Spannung beschreiben. Der Verbraucher sucht Düfte, die pampern, relaxen oder vitalisieren. Fruchtnoten kommen diesen Bedürfnissen entgegen. Sie sind unkompliziert, erinnern an Sommer, Sonne, Urlaub und sind wie Kinderdüfte: sauber, rein und unverfälscht. Fruchtnoten passen als Stimmungsmacher sehr gut in unsere schwierige Zeit.« Bezeichnendes Statement des weltweit größten Lieferanten von Aromastoffen. Kein Wunder, dass die Weinwelt diesen Zeitgeist aufgreift und mit Präparaten aus der Trickkiste der boomenden Biotechnologie dem Wein ein marktgerechtes Geschmacksprofil designt. Weg also von der Emanzipationsdroge – hin zur sedierenden Muttermilch, zur infantilisierenden Konsumgesellschaft, zur globalen Regression? Ja, ein ganz klarer Trend. Nicht nur am Gaumen, sondern auch beim ideologischen Überbau: Der weltweit wachsende Einfluss fundamentalistischer Ideologien findet mit der zunehmenden Popularität der Anthroposophie sein Pendant in der Weinwelt. 


Regression zu sehen? Wer zwingt uns, bei der Suche nach Spirituellem das Hirn an der Aber, Kulturpessimismusbrille einmal abgelegt: Wer zwingt uns, nur die negativen Seiten der Garderobe abzugeben und obskuren Gurus auf den Leim zu gehen? Betrachten wir die positiven Seiten. Lassen wir uns ein auf die Spannung zwischen Hell und Dunkel, auf Verstehen und Erfühlen. Auf das Spiel zwischen Kontrolle und Hingabe. Kontemporäre Dionysien? 


Langsam, von der Antarktis nach Norden driftend, hatte der Kontinent Laurussia vor gut vierhundert Millionen Jahren die Tropen erreicht. Hier herrschte mit hohen Temperaturen und enormen Niederschlägen ein ähnliches Klima wie heute, so dass die Böden durch die Oxidation des Eisens eine rötliche Farbe annahmen. »Old Red« wird Laurussia daher von den Geologen gerne genannt. Vor seiner südlichen Küste – in etwa dort, wo heute die Städte Aachen und Köln liegen – lag ein etwa sechzehn Kilometer tiefes Meer, welches sich, begleitet von tektonische Hebungen und Senkungen, langsam mit den unterschiedlichsten Sedimenten auffüllte. Das, was heute die Terrassenmosel definiert, sedimentierte vor 407,6 und 393,3 Millionen Jahren und beschreibt die enorme Vielfalt der damaligen Meeresböden. Rötliche, ocker und grau gefärbte Schluffe und Sande aus dem »Old Red« wechseln ab mit Anschwemmungen aus dem Meer, die heute meist als Tonpartikel vorliegen. Besonders vielfältig sind die »Beimischungen« organischen Lebens beim letzten Sediment. Bei einer Meerestiefe von nur zehn bis zwanzig Metern ermöglichte der hohe Gehalt an Sauerstoff im Meerwasser vielen Korallen, Muscheln, Algen und einer Vielzahl von Fischen und Reptilien ein optimales Wachstum. Bei hohem Wellengang und Stürmen wurde die tropische Flora und Fauna jedoch immer wieder mit dem Uferschlick vermischt und ließ ein sehr »organisches« Sediment entstehen. Vor etwa 325 Millionen Jahren war es dann so weit. Der aus Süden mit höherer Geschwindigkeit driftende Kontinent »Gondwana« kollidierte mit dem »Old Red« und presste dabei die Meeressedimente mit unglaublichem Druck zu einem festen Schiefergestein zusammen. Hierbei entstand nicht nur ein neuer Kontinent mit dem Namen Pangäa, sondern auch die Grundlage des Weinbaus an der Mosel. Denn nachdem sich der Fluss durch den Schiefer gegraben und sein Tal geformt hatte, boten die entstandenen Steilhänge eine fruchtbare Grundlage für den Weinbau. Bevor die ersten Reben gesetzt wurden, mussten bei der extremen Hangneigung allerdings oft erst Steine gebrochen und Terrassen angelegt werden. So entstand eine einzigartige Terrassenlandschaft, die in der heutigen Zeit geradezu anachronistisch anmutet, da hier weder Traktor noch Vollernter eingesetzt werden können. Bis auf das kleine Stück humusbildende Waldwiese als Pflanzerde und die sporadische Düngung mit Kuhmist kam es über die Jahrtausende zu keinerlei Manipulation des fruchtbaren Bodens, der sich langsam durch die Mineralisation des Felsens bildete. 


Das Geheimnis der hier angebauten Rebsorte Riesling liegt in ihrer geschmacklichen Neutralität, während sie gleichzeitig aber hier wie keine andere Rebe in der Lage ist, quasi als Medium die geschmackliche Individualität des Gesteins in die Trauben und damit in den Wein zu sublimieren. Wenn auf Kunstdünger und sonstige zweifelhafte Segnungen der Moderne verzichtet wird, entsteht das Unglaubliche: Die Unterschiede der einzelnen Felsen treten geschmacklich in den Vordergrund. Fast 400 Millionen Jahre alte versteinerte Meeresböden werden durch die Rebe zurückgeführt in den Kreislauf des organischen Lebens und erzählen uns ganz individuelle Geschichten aus dem tropischen Urmeer. Sie erzählen? Oder zeigen sie uns? Oder lassen sie uns schmecken? Was wir beim Weingenuss auch sehen, hören, fühlen – es lässt sich mit moderner Sprache nur sehr schwer darstellen. 


Als sich die Meeresbewohner in Urzeiten daran machten, das Land zu erkunden und ihre Sauerstoffaufnahme von Kiemen in sich langsam entwickelnde Lungen verlagert wurde, vollzog sich auch die Änderung des Geruchsapparates. Nervenzellen, die in der Lage waren, Duftmoleküle aus dem Wasser zu filtrieren, mussten lernen, auch die Geruchsstoffe aus der Luft zu identifizieren. Immer wieder verdoppelten sich die im Grunde nach dem gleichen Prinzip aufgebauten Gene mit kleinen Anpassungen an die Vielfalt der Geruchsquellen. Beim heutigen Menschen sind drei Prozent des gesamten Genoms, d. h. über tausend Gene, auf das Erkennen von Gerüchen spezialisiert. Davon sind allerdings etwa dreihundert durch Mutationen deformiert und haben keine Funktion mehr. Was nicht so schlimm ist, da wir uns ja vornehmlich visuell orientieren. Es bleiben ja immer noch siebenhundert unterschiedliche Gene, die es uns erlauben, bis zu zehntausend Düfte zu differenzieren. Und das in einer unglaublichen Präzision. Gute Nasen sind bei manchen Stoffen in der Lage, Konzentrationen zu erkennen, die dem Auffinden eines Sandkorns an einem eintausend Meter langen Strandabschnitt entsprechen. Die Geruchsgene der ersten Lungenfische und Reptilien sind erst teilweise erforscht. Aber wir wissen, dass sie und ihre Nachkommen Sinneszellen entstehen lassen, die heute unsere Nasenschleimhaut bevölkern. Da dies ein vierhundert Millionen Jahre langer Entwicklungsprozess war, erklärt, warum unser Geruchssinn auf direktem Wege mit den alten Bereichen unseres Gehirns verknüpft ist und nicht mit dem modernen Vorderhirn, welches sich erst mit der Entwicklung von Sprache und bewusstem Sehen parallel mit unserer Verabschiedung aus dem Tierreich entwickelte. Geruch und Geschmack sind vorsprachlich. Nun wollen wir uns aber über Wein unterhalten und haben hierfür eine Vielfalt von »Ersatzsprachen« ausgetüftelt. Ein Beispiel ist das in den 1980er Jahren an Universität von Davis / Kalifornien entwickelte »Aromenrad«. Hier wird der Geschmack deduktiv durch ein vorgegebenes und verästeltes Raster geschickt: »Hat der Wein Erdaromen? Hat er Fruchtaromen? Wenn Erde, ist sie feucht, pilzig, oder modrig, wenn Frucht, ist es der Herbst oder der Sommer, und auf der nächsten Ebene dann Pfirsich oder Himbeere oder Ananas …« Und wenn die Sinneseindrücke dann noch hinsichtlich ihrer Intensität skaliert werden, klappt die Kommunikation über Weingeschmack zumindest bei Insidern ganz gut. Aber irgendwie bleibt ein Gout. Es ist, als würde ein Gemälde von Baselitz durch die Abfrage beschrieben, ob es von Bildaufbau und Farbwerten mehr Anteile von Delacroix, Caspar David Friedrich oder Picasso hat. Je »objektiver« wir mit Wein umgehen, umso weniger liegt unsere Wahrnehmung auf der Gefühlsebene, auf den unbewussten Körperreaktionen, die in unserem limbischen System ausgelöst werden. Dabei liegt gerade hier das Spannende: Wenn wir es zulassen, lässt das Riechen und Schmecken von Wein vor unserem geistigen Auge Bilder entstehen und schenkt unserem inneren Ohr einen geheimnisvollen Sound. Wir reisen in fantastische Welten, in die Vergangenheit, zum letzten Urlaub in den Bergen, zum Frühstückstisch bei den Großeltern, zum Spielzeug der Kindheit. Und wir erleben einen Trip in die archaischen Gefilde unseres Unterbewusstseins. Nicht nur, dass wir das Urmeer in seinen verschiedenen Varianten schmecken, wir schmecken es mit fast den gleichen Sinnesorganen wie damals, vor 400 Millionen Jahren. Bitten wir unsere Augen, sich vom »scharfen Erkennen« auf ein tranceartiges Schauen umzustellen, bitten wir unsere Ohren, sich nach innen zu öffnen und unseren Gaumen, sich hinzugeben, sich zu entspannen und ganz passiv zu werden. Dann spüren wir es: Der Fisch in uns lässt uns teilhaben an der geschmacklichen Faszination versunkener tropischer Meeresböden, der Fisch in uns erinnert sich an Atlantis. 


»Das schönste Erlebnis ist die Begegnung mit dem Geheimnisvollen,« sagte einmal Albert Einstein. 


Literatur 

Erich Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, Kindler, 1949 · 

Neill Shubin, Der Fisch in uns, Fischer 2009

Reinhard Heymann-Löwenstein, Terroir, Kosmos 2009

Regression - Emanzipation - Partizipation

Artikel Journal Culinaire, 2014

»Es gibt einen geerbten und einen gelernten Geschmack«, erklärt der kalifornische Kultwinzer Randall Graham. »Der globale Erfolg der Weine aus der Neuen Welt liegt an einer Vinifikation, die ganz auf den geerbten Geschmack abzielt.«


Klar – schon als Jäger und Sammler kannten wir den Unterschied zwischen reifen und unreifen Früchten. Instinktiv und ernährungsphysiologisch völlig richtig wird die süße Frucht als reif und gut assoziiert. Wer mag schon sauer oder bitter? Kinder nicht. Und Erwachsene? Mit dem Verlassen der infantilen Welt von süßer Milch, Breien und Früchten lernen wir, mit differenzierten Aromen umzugehen und entwickeln »Geschmack«. Dabei ist es gar nicht notwendig, den Schnuller der Babys, wie in Winzerfamilien üblich, ab und zu in Wein zu tauchen. Hunger, Neugierde und Entdeckerlust verleiten dazu, nach neuen Nahrungsmitteln zu suchen und die Vielfalt schätzen zu lernen. Dieser Prozess findet in allen Kulturen statt und mündet bei unterschiedlichem Klima und Ressourcen nicht nur in einer weltweit unglaublichen kulinarischen Vielfalt sondern auch in einem kulturellen Setting: Eß- und Trinkgewohnheiten sind für viele Identitätsbildend. Beim Wein zusätzlich mit einer ganz besonderen Dimension. Kein Getränk ist anthropogenetisch so sehr mit der Bewusstseinsentwicklung verknüpft. Überall finden wir Übereinstimmungen zwischen den Bezeichnungen für geistige Getränke und dem menschlichen Geist, für Spirituose und Spiritus. Selbst im Chinesischen und Japanischen beschreibt das erste Piktogramm des Zeichens für »geistige Getränke« die alkoholische Gärung und ein zweites den menschlichen Geist resp. Seele. Weltweit ist der Wein Symbol für typisch »menschliche« Eigenschaften. Für Zivilisation, Kommunikation, Kunst und Entdeckerlust. Während Milch, Wasser und Brot Archetypen der Naturverbundenheit darstellen, ist Wein der Geist, die Emanzipation. Und doch kann der mit Wein angefeuerte geistige Höhenflug sehr irdisch und profan enden. Beim »Zuviel des Guten« zeigt Wein seine dunkle Seite – mit allen Übergangsformen bis zum kompletten Ich-Verlust. Wie gut, dass er uns auch diese Tür öffnet. Das viele Elend überall, die individuellen Probleme … Wer kann »Welt« schon permanent mit vollem Bewusstsein aushalten? Extreme Polarität in einem Produkt. Kein Wunder, dass Wein von Anbeginn an eine essentielle Rolle spielt, wenn es mythologisch um Sterben und Wiedergeburt geht. Was im christlichen Abendmahl recht distanziert in Szene gesetzt ist, wurde in den Dionysien in archaischer Betroffenheit ausgelebt. Der Kampf zwischen Tag und Nacht, zwischen Bewusstheit und Regression. Anders als in den alten Kulturen steht heute allerdings die Frage »wer gewinnt« nicht mehr so sehr im Fokus. In unserer allgemeinen Selbstwahrnehmung halten wir uns für ziemlich vernunftbegabte und selbstbestimmte Wesen. Obwohl … 


Vom historischen Optimismus der Wirtschaftswunderjahre ist in Mitteleuropa nicht viel übrig geblieben. Nach einer Reihe von Krisen steht der Bankrott des Sozialismus symbolisch für den Übergang in eine Zeit allgemeiner Verunsicherung und eine durch soziale Konflikte und Ökokatastrophen geprägte depressive Grundstimmung. »Der Einsatz fruchtiger Noten hat in den letzten Jahren einen rasanten Aufschwung genommen. In den 1990er-Jahren hat sich infolge politischer und wirtschaftlicher Veränderungen die soziale Stimmung verschlechtert. Die Menschen erleben eine dauerhafte und eigentümliche Spannung zwischen dem Wollen nach Leistung und Ärmelhochkrempeln einerseits und der Suche nach Sicherheit und Vertrautem andererseits. Diese psychologisch wechselhafte Stimmungslage benötigt auf keinen Fall Düfte, die Spannung beschreiben. Der Verbraucher sucht Düfte, die pampern, relaxen oder vitalisieren. Fruchtnoten kommen diesen Bedürfnissen entgegen. Sie sind unkompliziert, erinnern an Sommer, Sonne, Urlaub und sind wie Kinderdüfte: sauber, rein und unverfälscht. Fruchtnoten passen als Stimmungsmacher sehr gut in unsere schwierige Zeit.« Bezeichnendes Statement des weltweit größten Lieferanten von Aromastoffen. Kein Wunder, dass die Weinwelt diesen Zeitgeist aufgreift und mit Präparaten aus der Trickkiste der boomenden Biotechnologie dem Wein ein marktgerechtes Geschmacksprofil designt. Weg also von der Emanzipationsdroge – hin zur sedierenden Muttermilch, zur infantilisierenden Konsumgesellschaft, zur globalen Regression? Ja, ein ganz klarer Trend. Nicht nur am Gaumen, sondern auch beim ideologischen Überbau: Der weltweit wachsende Einfluss fundamentalistischer Ideologien findet mit der zunehmenden Popularität der Anthroposophie sein Pendant in der Weinwelt. 


Regression zu sehen? Wer zwingt uns, bei der Suche nach Spirituellem das Hirn an der Aber, Kulturpessimismusbrille einmal abgelegt: Wer zwingt uns, nur die negativen Seiten der Garderobe abzugeben und obskuren Gurus auf den Leim zu gehen? Betrachten wir die positiven Seiten. Lassen wir uns ein auf die Spannung zwischen Hell und Dunkel, auf Verstehen und Erfühlen. Auf das Spiel zwischen Kontrolle und Hingabe. Kontemporäre Dionysien? 


Langsam, von der Antarktis nach Norden driftend, hatte der Kontinent Laurussia vor gut vierhundert Millionen Jahren die Tropen erreicht. Hier herrschte mit hohen Temperaturen und enormen Niederschlägen ein ähnliches Klima wie heute, so dass die Böden durch die Oxidation des Eisens eine rötliche Farbe annahmen. »Old Red« wird Laurussia daher von den Geologen gerne genannt. Vor seiner südlichen Küste – in etwa dort, wo heute die Städte Aachen und Köln liegen – lag ein etwa sechzehn Kilometer tiefes Meer, welches sich, begleitet von tektonische Hebungen und Senkungen, langsam mit den unterschiedlichsten Sedimenten auffüllte. Das, was heute die Terrassenmosel definiert, sedimentierte vor 407,6 und 393,3 Millionen Jahren und beschreibt die enorme Vielfalt der damaligen Meeresböden. Rötliche, ocker und grau gefärbte Schluffe und Sande aus dem »Old Red« wechseln ab mit Anschwemmungen aus dem Meer, die heute meist als Tonpartikel vorliegen. Besonders vielfältig sind die »Beimischungen« organischen Lebens beim letzten Sediment. Bei einer Meerestiefe von nur zehn bis zwanzig Metern ermöglichte der hohe Gehalt an Sauerstoff im Meerwasser vielen Korallen, Muscheln, Algen und einer Vielzahl von Fischen und Reptilien ein optimales Wachstum. Bei hohem Wellengang und Stürmen wurde die tropische Flora und Fauna jedoch immer wieder mit dem Uferschlick vermischt und ließ ein sehr »organisches« Sediment entstehen. Vor etwa 325 Millionen Jahren war es dann so weit. Der aus Süden mit höherer Geschwindigkeit driftende Kontinent »Gondwana« kollidierte mit dem »Old Red« und presste dabei die Meeressedimente mit unglaublichem Druck zu einem festen Schiefergestein zusammen. Hierbei entstand nicht nur ein neuer Kontinent mit dem Namen Pangäa, sondern auch die Grundlage des Weinbaus an der Mosel. Denn nachdem sich der Fluss durch den Schiefer gegraben und sein Tal geformt hatte, boten die entstandenen Steilhänge eine fruchtbare Grundlage für den Weinbau. Bevor die ersten Reben gesetzt wurden, mussten bei der extremen Hangneigung allerdings oft erst Steine gebrochen und Terrassen angelegt werden. So entstand eine einzigartige Terrassenlandschaft, die in der heutige Zeit geradezu anachronistisch anmutet, da hier weder Traktor noch Vollernter eingesetzt werden können. Bis auf das kleine Stück humusbildende Waldwiese als Pflanzerde und die sporadische Düngung mit Kuhmist kam es über die Jahrtausende zu keinerlei Manipulation des fruchtbaren Bodens, der sich langsam durch die Mineralisation des Felsens bildete. 


Langsam, von der Antarktis nach Norden driftend, hatte der Kontinent Laurussia vor gut vierhundert Millionen Jahren die Tropen erreicht. Hier herrschte mit hohen Temperaturen und enormen Niederschlägen ein ähnliches Klima wie heute, so dass die Böden durch die Oxidation des Eisens eine rötliche Farbe annahmen. »Old Red« wird Laurussia daher von den Geologen gerne genannt. Vor seiner südlichen Küste – in etwa dort, wo heute die Städte Aachen und Köln liegen – lag ein etwa sechzehn Kilometer tiefes Meer, welches sich, begleitet von tektonische Hebungen und Senkungen, langsam mit den unterschiedlichsten Sedimenten auffüllte. Das, was heute die Terrassenmosel definiert, sedimentierte vor 407,6 und 393,3 Millionen Jahren und beschreibt die enorme Vielfalt der damaligen Meeresböden. Rötliche, ocker und grau gefärbte Schluffe und Sande aus dem »Old Red« wechseln ab mit Anschwemmungen aus dem Meer, die heute meist als Tonpartikel vorliegen. Besonders vielfältig sind die »Beimischungen« organischen Lebens beim letzten Sediment. Bei einer Meerestiefe von nur zehn bis zwanzig Metern ermöglichte der hohe Gehalt an Sauerstoff im Meerwasser vielen Korallen, Muscheln, Algen und einer Vielzahl von Fischen und Reptilien ein optimales Wachstum. Bei hohem Wellengang und Stürmen wurde die tropische Flora und Fauna jedoch immer wieder mit dem Uferschlick vermischt und ließ ein sehr »organisches« Sediment entstehen. Vor etwa 325 Millionen Jahren war es dann so weit. Der aus Süden mit höherer Geschwindigkeit driftende Kontinent »Gondwana« kollidierte mit dem »Old Red« und presste dabei die Meeressedimente mit unglaublichem Druck zu einem festen Schiefergestein zusammen. Hierbei entstand nicht nur ein neuer Kontinent mit dem Namen Pangäa, sondern auch die Grundlage des Weinbaus an der Mosel. Denn nachdem sich der Fluss durch den Schiefer gegraben und sein Tal geformt hatte, boten die entstandenen Steilhänge eine fruchtbare Grundlage für den Weinbau. Bevor die ersten Reben gesetzt wurden, mussten bei der extremen Hangneigung allerdings oft erst Steine gebrochen und Terrassen angelegt werden. So entstand eine einzigartige Terrassenlandschaft, die in der heutige Zeit geradezu anachronistisch anmutet, da hier weder Traktor noch Vollernter eingesetzt werden können. Bis auf das kleine Stück humusbildende Waldwiese als Pflanzerde und die sporadische Düngung mit Kuhmist kam es über die Jahrtausende zu keinerlei Manipulation des fruchtbaren Bodens, der sich langsam durch die Mineralisation des Felsens bildete. 


Das Geheimnis der hier angebauten Rebsorte Riesling, liegt in ihrer geschmacklichen Neutralität, während sie gleichzeitig aber hier wie keine andere Rebe in der Lage ist, quasi als Medium die geschmackliche Individualität des Gesteins in die Trauben und damit in den Wein zu sublimieren. Wenn auf Kunstdünger und sonstige zweifelhafte Segnungen der Moderne verzichtet wird, entsteht das Unglaubliche: Die Unterschiede der einzelnen Felsen treten geschmacklich in der Vordergrund. Fast 400 Millionen Jahre alte versteinerte Meeresböden werden durch die Rebe zurückgeführt in den Kreislauf des organischen Lebens und erzählen uns ganz individuelle Geschichten aus dem tropischen Urmeer. Sie erzählen? Oder zeigen sie uns? Oder lassen sie uns schmecken? Was wir beim Weingenuss auch sehen, hören, fühlen – es lässt sich mit moderner Sprache nur sehr schwer darstellen. 


Als sich die Meeresbewohner in Urzeiten daran machten, das Land zu erkunden und ihre Sauerstoffaufnahme von Kiemen in sich langsam entwickelnde Lungen verlagert wurde, vollzog sich auch die Änderung des Geruchsapparates. Nervenzellen, die in der Lage waren, Duftmoleküle aus dem Wasser zu filtrieren, mussten lernen, auch die Geruchsstoffe aus der Luft zu identifizieren. Immer wieder verdoppelten sich die im Grunde nach dem gleichen Prinzip aufgebauten Gene mit kleinen Anpassungen an die Vielfalt der Geruchsquellen. Beim heutigen Menschen sind drei Prozent des gesamten Genoms, d. h. über tausend Gene, auf das Erkennen von Gerüchen spezialisiert. Davon sind allerdings etwa dreihundert durch Mutationen deformiert und haben keine Funktion mehr. Was nicht so schlimm ist, da wir uns ja vornehmlich visuell orientieren. Es bleiben ja immer noch siebenhundert unterschiedliche Gene, die es uns erlauben, bis zu zehntausend Düfte zu differenzieren. Und das in einer unglaublichen Präzision. Gute Nasen sind bei manchen Stoffen in der Lage, Konzentrationen zu erkennen, dies dem Auffinden eines Sandkorns an einem eintausend Meter langen Strandabschnitt entsprechen. Die Geruchsgene der ersten Lungenfische und Reptilien sind erst teilweise erforscht. Aber wir wissen, dass sie und ihre Nachkommen Sinneszellen entstehen lassen, die heute unsere Nasenschleimhaut bevölkern. Da dies ein vierhundert Millionen Jahre langer Entwicklungsprozess war, erklärt, warum unser Geruchssinn auf direktem Wege mit den alten Bereichen unseres Gehirns verknüpft ist und nicht mit dem modernen Vorderhirn, welches sich erst mit der Entwicklung von Sprache und bewusstem Sehen parallel mit unserer Verabschiedung aus dem Tierreich entwickelte. Geruch und Geschmack sind vorsprachlich. Nun wollen wir uns aber über Wein unterhalten und haben hierfür eine Vielfalt von »Ersatzsprachen« ausgetüftelt. Ein Beispiel ist das in den 1980er Jahren an Universität von Davis / Kalifornien entwickelte »Aromenrad«. Hier wird der Geschmack deduktiv durch ein vorgegebenes und verästeltes Raster geschickt: »Hat der Wein Erdaromen? Hat er Fruchtaromen? Wenn Erde, ist sie feucht, pilzig, oder modrig, wenn Frucht, ist es der Herbst oder der Sommer, und auf der nächsten Ebene dann Pfirsich oder Himbeere oder Ananas …« Und wenn die Sinneseindrücke dann noch hinsichtlich ihrer Intensität skaliert werden, klappt die Kommunikation über Weingeschmack zumindest bei Insidern ganz gut. Aber irgendwie bleibt ein Gout. Es ist, als würde ein Gemälde von Baselitz durch die Abfrage beschrieben, ob es von Bildaufbau und Farbwerten mehr Anteile von Delacroix, Caspar David Friedrich oder Picasso hat. Je »objektiver« wir mit Wein umgehen, umso weniger liegt unsere Wahrnehmung auf der Gefühlsebene, auf den unbewussten Körperreaktionen, die in unserem limbischen System ausgelöst werden. Dabei liegt gerade hier liegt das Spannende: Wenn wir es zulassen, lässt das Riechen und Schmecken von Wein vor unserem geistigen Auge Bilder entstehen und schenkt unserem inneren Ohr einen geheimnisvollen Sound. Wir reisen in fantastische Welten, in die Vergangenheit, zum letzten Urlaub in den Bergen, zum Frühstückstisch bei den Großeltern, zum Spielzeug der Kindheit. Und wir erleben einen Trip in die archaischen Gefilde unseres Unterbewusstseins. Nicht nur, dass wir das Urmeer in seinen verschiedenen Varianten schmecken, wir schmecken es mit fast den gleichen Sinnesorganen wie damals, vor 400 Millionen Jahren. Bitten wir unsere Augen, sich vom »scharfen Erkennen« auf ein tranceartiges Schauen umzustellen, bitten wir unsere Ohren, sich nach innen zu öffnen und unseren Gaumen, sich hinzugeben, sich zu entspannen und ganz passiv zu werden. Dann spüren wir es: Der Fisch in uns lässt uns teilhaben an der geschmacklichen Faszination versunkener tropischer Meeresböden, der Fisch in uns erinnert sich an Atlantis. 


»Das schönste Erlebnis ist die Begegnung mit dem Geheimnisvollen,« sagte einmal Albert Einstein. 


Literatur 

Erich Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, Kindler, 1949 · 

Neill Shubin, Der Fisch in uns, Fischer 2009

Reinhard Heymann-Löwenstein, Terroir, Kosmos 2009

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